>> think local – act global! oder umgekehrt?
turrisbabel 80 | jetzt im ausgewählten Handel
Architektur zwischen Heimatstil, Globalisierung und Ortsbildpflege
In der Architekturszene gab es und gibt es immer wieder Architekten, die mit dem Namen eines Ortes oder einer Region zu einer Gruppe zusammengefasst werden: Tessiner Tendenza, Grazer Schule, Vorarlberger Baukünstler, Basler Gruppe – nun stellt turrisbabel in seiner neuesten Ausgabe die Frage: „gibt es eine (moderne) Südtiroler Architektur?“
Besteht die einzige Gemeinsamkeit der Südtiroler Architekten darin, dass sie zeitgenössische Architektur in der Provinz Südtirol bauen? Unterscheidet sich ihre Architektur bei gleichbleibender Bauaufgabe von moderner Architektur in Zürich, Tokio oder San Francisco – haben doch die meisten der Architekten ihre Ausbildungen in Florenz, Graz, London, Barcelona oder Wien genossen und ihre ersten Sporen in aller Welt erworben. Ist ihre Architektur die gesuchte zeitgemässe lokale Architektur? Was ist es dann genau, was diese gegenüber anderen lokalen Architekturformen unterscheidet? Und ist eine typische Südtiroler Architektur überhaupt wünschenswert und notwendig? Was sind denn eigentlich die ortstypischen Rahmenbedingungen? Der klimatisch-geologische-lokal-politische-sozio-kulturelle Kontext?
Haus in Tokio, Japan vs. Haus in Schenna, Südtirol
… „Neu-, Auf-, An- und Umbauten, Tiefbauten, Terrainveränderungen, Ablagerungen, Einfriedungen, Reklameeinrichtungen, Material und Farben haben sich harmonisch in das überlieferte charakteristische Strassen-, Landschafts- und Ortsbild einzufügen.“ … [Auszug Bauordnung]
Die Wurzeln des Begriffs Ortsbild sind im 19. Jahrhundert zu suchen. Ortsbild beinhaltet die überschaubare (Kleinstadt)Idylle im Gegensatz zur ausufernden Grosstadt. Es ist die verklärte Anschauung einer Oberfläche. Die Ansichtskarte ist ein wichtiges Medium für die Verbreitung und touristischen Vermarktung des Ortsbildes. Mit ihrer Hilfe wird definiert, was zum Ortsbild gehört. Die Ansichtskarte trifft damit eine ästhetische Auswahl. Jegliche Realität wird ausgeblendet. Die Ansichtskarten geben dem Abgebildeten die Aura der Unantastbarkeit und der Vollendung von Heimat.
Heimat ist ein kulturpolitisches Konzept ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert, entstanden aus dem Bewusstsein eines Verlustes der sogenannten heilen Welt. Getragen wurde die Heimatbewegung von der kleinbürgerlichen Mittelschicht, die im Konflikt stand mit der Grossstadtkultur und den Auswirkungen der Industriellen Revolution. Heimat stand für eine überschaubare tradierte Welt. Es war ein romantischer Fluchtbegriff.
global vs. lokal Jürgen Mayer H. vs. M. Scagnol
Der Heimatstil ist demnach eine Erfindung der grossstädtischen Industriegesellschaft, er bezeichnet die dekorative Verzierungen der neuen Bautypen wie Hotels, Kurhäuser, Badeanstalten, Bahnhöfe oder Villen des späten 19. Jahrhunderts, die im Zuge der städtischen Landnahme überall in die Landschaft gesetzt wurden. Heimatstil war also eine Einkleidung der neuen und teilweise brutalen Bautypen mit bäuerlichen Motiven oder solchen, die man dafür hielt. Der Heimatstil war ein internationales Phänomen. Er breitete sich von den Pyrenäen bis zu den Karpaten und bis in die Kolonien hinein aus und wurde heute mit dem Begriff „Authentizität“ ersetzt.
Da klingen kontroverse Begriffe an, die genauer betrachtet werden sollten…
Bau(herren)kultur Nord vs. Süd | Stadt-Seilbahnbau in Innsbruck und in Bozen
Auf jeden Fall gibt es auf Wanderungen durch Südtirol vieles zu entdecken, das reichlich Stoff für spannende Gespräche hergibt. Warum also nicht einmal über das Geniessen von Luft, Landschaft und gutem Essen hinaus auch die gebauten Tat-Sachen, ihre Hintergründe und Geschichten etwas genauer betrachten?
>> Turrisbabel 80 | Editorial | Artikel von Carlo Calderan [ita/deu]